Jette Steckels „Sturm“ am Thalia Theater

Der Sturm - a Lullaby of Suffering nach Wilhelm Shakespeare

Der Sturm (The Tempest) ist Shakespeares (1564-1616) letztes Stück, um 1609 entstanden, mit Sicherheit 1611 vor König Jacob I. in Whitehall aufgeführt. Der frühere Herzog von Mailiand, Prospero (lat.: der Erfolgreiche), wird von seinem Bruder Antonio entmachtet und aus Mailand vertrieben, weil er sich zu sehr um seine Bücher und nicht um die Staatsgeschäfte gekümmert hat. Zusammen mit seiner Tochter  Miranda (lat.: die Bewundernswerte) wird er auf ein Schiff gebracht und auf einer öden Insel ausgesetzt. Mit der Hilfe seiner Bücher erlernt Prospero die Fähigkeit der Zauberei und gewinnt Macht über Geister und Nymphen der Insel. Dazu gehören der böse Caliban, halb Mensch, halb Tier und Sohn der Hexe Sycorax, ursprünglich die Herrscher der Insel, außerdem der gute Luftgeist Ariel, von Prospero aus einer Kiefer befreit, in der Sycorax ihn gefangen gehalten hielt. Ariel ist Prospero deshalb zu Dank verpflichtet. Caliban hingegen hat versucht Miranda zu vergewaltigen und muss deshalb Prospero als Sklave dienen.

Prosepero fühlt den Tod nahen, seine Tochter aber hat das Leben und die Menschen fern der Zivilisation noch gar nicht kennengelernt. Als  die Flotte des Königs von Neapel an der Insel vorbei segelt, lässt Prosepero das Schiff des Königs mit Hilfe von Ariel, der einen Sturm entfacht, auf der Insel stranden, aus Rache, aber auch, um seiner Tochter des Wesen des Menschen vorzuführen. Die Besatzung des Schiffes versetzt Prospero in einen Schlaf. Alonso, den König von Neapel, seinen Bruder Sebastian und seinen Sohn Ferdinand, sowie Antonio, Prosperos Bruder und  unrechtmäßiger König von Mailand und einige weitere Edelleute lässt Prospero auf der Insel umher irren.

Ferdinand wird von Ariel schließlich zu Prospero und Miranda gebracht, wonach sich der Sohn des Königs von Neapel und die Tochter Prosperos sich sofort ineinander verlieben.  Die anderen beschäftigen sich unterdessen mit Intrigen. Antonio überredet Sebastian, seinen Bruder Alonso umzubringen, um selber den Thron zu besteigen, doch Ariel verhindert den Mord. Trinculo und Stephano, ein Hofnarr und ein Kellermeister, setzen Caliban unter Alkohol. Zu dritt wollen sie Prospero töten, um selber Herrscher der Insel zu werden. Auch dieses Unterfangen wird von Ariel verhindert. Schließlich ruft Prospero die Gestrandeten zu sich und verzeiht ihnen seine Verbannung und ihre Mordabsichten. Die Heirat von Ferdinand und Miranda wird von allen gut geheißen und besiegelt. Prospero erklärt, als Herzog nach Mailand zurückkehren zu wollen und wirft seine Zauberuntensilien weg.

In der Inszenierung von Jette Steckel am Thalia-Theater dient Shakespeares „Sturm“ als Vorlage für eine modernisierte Fassung einer seiner Kernbotschaften und auch als Ausgangspunkt und Orientierungshilfe für eine ganz andere, aktuellere Form des Theater. Der Titel lautet deshalb auch: „Der Sturm – A Lullaby for Suffering nach William Shakespeare“. Ein Wiegenlied des Leidens also.

Jette Jeckel und das Ensmble des Thalia-Theaters bieten den Zuschauern eine knapp dreistündige Revue, ein optisch-akustisches Feuerwerk mit Texten von Shakespeare, Musik und Tanz – alles andere als das traditionelle Sprechtheater. Der Anfang ist noch ganz klassisch: Das Stück beginnt mit dem Dialog von Prosepero und seiner Tochter, in dem der Vater, hier von einer Frau, Barbara Nüsse gespielt, seiner Tochter Miranda, dargestellt von der der großartigen Maja Schöne, die Vorgeschichte erzählt, die sie und ihn auf diese Insel gebracht haben. Doch dann beginnt der große Tanz. Die Gestrandeten des „Sturms“ treten  auf und rufen Parolen. Miranda, die von der Welt bisher nichts wusste, beobachtet staunend die Menschenmenge.

Ein dreistöckiges Haus wird auf die Bühne gefahren, an den Seiten offen und damit einzusehen. In seinem labyrinthhaften Inneren spielt sich nun der größte Teil des Stückes ab, draußen steht Prospero und dirigiert das traumhafte Geschehen. Es gibt viele verblüffende und verwirrende Effekte: Nach der Anfangsszene wandern Caliban (André Szymanski) und Ariel (Mirko Kreibich) wie schwerelos die Wand empor. Sandmalereien, verwischte Spuren, werden von der Waagerechten auf die Senkrechte projiziert, eine virtuelle Hauswand entsteht, die durch Hell und Dunkel den Blick auf einzelne Räume mal freigibt, mal verwehrt. Auch Videos sind auf dieser riesigen Leinwand zusehen: Mirandas überlebensgroßes Gesicht, zum Beispiel.

Im Haus sind alle Räume miteinander verbunden. Die Räume selbst sind kleine Kammern, Kabinen, mit einem oder zwei Schlafplätzen. Die Darsteller durcheilen die Segmente mit großer Gewandtheit, liefern sich Verfolgungsjagden, springen durch die kleinen Klappen und Durchgängen in den Trennwänden. Draußen klettern Ariel und Caliban, der Schwerkraft trotzend, im 90-Grad-Winkel den Wand entlang.

Es wird gesprochen und viel gesungen, gerappt. Die Songs stammen von Leonhard Cohen, vor allem aber von der britischen Rapperin Kate Tempest. Im Stück wechselt die Sprache zwischen Deutsch und Englisch hin und her. Shakespeares Texte werden deutsch vorgetragen, die übrigen Texte auf Englisch. Über der Bühne, rechts und links sind Übersetzungen zu sehen. Wer im Englischen nicht so firm ist, muss sich entscheiden: Texte lesen oder der vielschichtigen Handlung auf der Bühne folgen. Ohnehin ist die Botschaft bald klar – eine einzige Anklage.

Mit den Worten von Kate Tempest:

Let them eat Chaos:

Europe is lost, America lost, London lost
Still we are clamouring victory
All that is meaningless rules
We have learned nothing from history
The people are dead in their lifetimes
Dazed in the shine of the streets
But look how the traffic’s still moving
System’s too slick to stop working
Business is good, and there’s bands every night in the pubs
And there’s two for one drinks in the clubs
And we scrubbed up well
Washed off the work and the stress
And now all we want’s some excess
Better yet; a night to remember that we’ll soon forget
All of the blood that was bled for these cities to grow
All of the bodies that fell
The roots that were dug from the earth
So these games could be played
I see it tonight in the stains on my hands
The buildings are screaming
I can’t ask for help though, nobody knows me
Hostile, worried, lonely
We move in our packs and these are the rights we were born to
Working and working so we can be all that we want
Then dancing the drudgery off
But even the drugs have got boring
Well, sex is still good when you get it
To sleep, to dream, to keep the dream in reach
To each a dream, don’t weep, don’t scream
Just keep it in, keep sleeping in
What am I gonna do to wake up?
I feel the cost of it pushing my body
Like I push my hands into pockets, and softly
I walk and I see it, this is all we deserve
The wrongs of our past have resurfaced
Despite all we did to vanquish the traces
My very language is tainted
With all that we stole to replace it with this
I am quiet, feeling the onset of riot
Riots are tiny though, systems are huge
Traffic keeps moving, proving there’s nothing to do
‚Cause it’s big business, baby, and its smile is hideous
Top down violence, a structural viciousness
Your kids are dosed up on medical sedatives
But don’t worry bout that, man, worry ‚bout terrorists
The water level’s rising! The water level’s rising!
The animals, the elephants, the polar bears are dying!
Stop crying, start buying, but what about the oil spill?
Shh, no one likes a party pooping spoil sport
Massacres, massacres, massacres/new shoes
Ghettoised children murdered in broad daylight
By those employed to protect them
Live porn streamed to your pre-teen’s bedrooms
Glass ceiling, no headroom
Half a generation live beneath the breadline
Oh, but it’s happy hour on the high street
Friday night at last lads, my treat!
All went fine till that kid got glassed in the last bar
Place went nuts, you can ask our Lou
It was madness, road ran red, pure claret
And about them immigrants? I can’t stand them
Mostly, I mind my own business
They’re only coming over here to get rich, it’s a sickness
England! England! Patriotism!
And you wonder why kids want to die for religion?
It goes, work all your life for a pittance
Maybe you’ll make it to manager, pray for a raise
Cross the beige days off on your beach babe calendar
The anarchists are desperate for something to smash
Scandalous pictures of fashionable rappers
In glamorous magazines, who’s dating who?
Politico cash in an envelope
Caught sniffing lines off a prostitutes prosthetic tits
Now it’s back to the house of lords with slapped wrists
They abduct kids and fuck the heads of dead pigs
But him in a hoodie with a couple of spliffs

Jail him, he’s the criminal
Jail him, he’s the criminal
It’s the BoredOfItAll generation
The product of product placement and manipulation
Shoot ‚em up, brutal, duty of care
Come on, new shoes, beautiful hair, bullshit!
Saccharine ballads and selfies, and selfies, and selfies
And here’s me outside the palace of ME!
Construct a self and psychosis
Meanwhile the people were dead in their droves
And, no, nobody noticed; well, some of them noticed
You could tell by the emoji they posted
Sleep like a gloved hand covers our eyes
The lights are so nice and bright and let’s dream
But some of us are stuck like stones in a slipstream
What am I gonna do to wake up?
We are lost, we are lost, we are lost
And still nothing, will stop, nothing pauses
We have ambitions and friendships and courtships to think of
Divorces to drink off the thought of
The money, the money, the oil
The planet is shaking and spoiled
And life is a plaything
A garment to soil
The toil, the toil
I can’t see an ending at all
Only the end
How is this something to cherish?
When the tribesmen are dead in their deserts
To make room for alien structures
Develop, develop
And kill what you find if it threatens you
No trace of love in the hunt for the bigger buck
Here in the land where nobody gives a fuck
(Kate Tempest)

Zum Schluss findet das Stück dann schließlich wieder wieder zur Shakespeare’schen Vorlage zurück. Der Sturm am Thalia Theater, Kate Tempests Wiegenlied des Leidens, eingebettet in einer Rückbesinnung auf ein altes Shakespeare-Stück. 400 Jahre später.

 

Der Sturm – A Lullaby for Suffering nach William Shakespeare

Regie: Jette Steckel
Musikalische Leitung: Laurenz Wannenmacher
Bühne: Florian Lösche
Kostüme: Sophie Klenk-Wulff
Video: Zaza Rusadze
Dramaturgie: Julia Lochte, Emilia Linda Heinrich

Darsteller:
Alicia Aumüller (Alicia)
Mirco Kreibich (Ariel)
Matthias Leja (Antonio)
Marie Löcker (Esther)
Sebastian Rudolph (Gonzalo – für die erkrankte Karin Neuhäuser)
Barbara Nüsse (Prospero)
Jan Plewka (Ferdinand)
Maja Schöne (Miranda)
André Szymanski (Caliban)
Tilo Werner (Sebastian)

Musiker:
Gabriel Coburger
Johannes Huth
Sven Kerschek
Stephan Kraus
Laurenz Wannenmacher (Leitung)
Choreografie: Yohan Stegli

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